Ein mittelalterliches Kunstwerk - direkt vor unserer Haustür


Die Kreuzigung auf der Titelseite des Martin-Luther-Briefes können Sie ganz in unserer Nähe betrachten: Es ist das Altarbild der Dahlemer St.-Annen-Kirche in der Königin-Luise-Straße 55.

Kulturbüro Dr. Lore Gewehr - Berlin - Kirchenführungen, Vorträge & Präsentationen, Gruppen-Reisebegleitung - Annenkirche

Diese alte Dorfkirche hat ihren Namen von den übergroßen Fresken mit Anna Selbdritt im Mittelpunkt, die in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden, 1905 unsachgemäß restauriert wurden und heute kaum noch zu erkennen sind. Dasselbe Schicksal trifft den berühmten Totentanz in der Marienkirche in Berlin-Mitte aus dem Jahr nach der Pest in Berlin 1484, wahrscheinlich waren das früher keine echten Fresken, sondern Seccomalerei auf trockenem Putz. An das feuchte Berliner Klima hatte damals niemand gedacht.

In der Annenkirche werden wir aber entschädigt durch das qualitätsvolle Altarbild, das die Dahlemer Kirchengemeinde 1984 als Leihgabe vom Franziskanerorden erhielt, weil das Gebäude der Berliner Klosterkirche als Kriegsruine keinen Raum für Kunstschätze mehr bot. Dendrochronologische Untersuchungen ergaben eine Herstellungszeit von ebenfalls 1485-90, was diverse Autoren dazu verführte, einen Zusammenhang zum Totentanz herzustellen, der eher aus dem böhmischen Raum stammen soll. Ich bin anderer Meinung und orte dieses Schmuckstück allein stilgeschichtlich in einen anderen Kulturraum ein, nämlich in den niederländischen Raum mit Burgund. Burgund war seinerzeit eines der reichsten mitteleuropäischen Herzogtümer, die Fürsten waren verwandt mit den französischen Königen Valois. Sie förderten Kunst und Kultur und bestimmten die Mode der Zeit: Jan van Eyck verfeinerte die Ölmalerei zur Perfektion, und 50 Jahre später brach das Genie Rogier van der Weyden sich Bahn: Altarbilder, Porträts, einige auch in der Berliner Gemäldegalerie zu bewundern. Leider war die Blüte des Landes bereits mit dem 4. Herzog vorbei: Der eitle Karl der Kühne führte ohne Not einen Krieg gegen die Schweizer um den Besitz Lothringens, fiel bei der Schlacht und der Burgunderschatz zerstreute sich in alle Winde: Das silberne Service landete in der Münze, die Teppiche sind in Bern im Museum und der Rest kam als Brautgabe mit der Tochter Maria an den Habsburger Maximilian, darunter der Schatz des Ordens vom Goldenen Vlies.

Wenden wir uns nun dem Dahlemer Altarbild zu: Es ist in hervorragender Verfassung und fällt auf durch den Goldenen Himmel (eigentlich damals nicht mehr zeitgemäß, da Gold sehr teuer geworden war durch die vielen Brokatstoffe aus dem Orient, Bildhintergründe, Schmuck. Das änderte sich erst im 16. Jahrhundert, als Seefahrer mit in Mittelamerika geraubten Goldschätzen nach Europa zurückkehrten). Der goldene Himmel kann als Vorwegnahme der Auferstehung gesehen werden, Gold als Spender göttlichen Lichts.

Unter dem Kreuz mit dem bereits toten Christus sind zwei Figurengruppen angeordnet: vom Betrachter aus gesehen rechts die Juden und Soldaten, links Johannes, Maria und die anderen drei Marien. Der römische Centurio sitzt diesmal nicht auf einem Pferd, hat seinen Glace-Lederhandschuh ausgezogen und deutet auf Christus mit den Worten: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.

Alle drei Juden tragen phantasievolle Pelzmützen, der rechte ein aufwändiges Brokatgewand, gemustert mit aufgeplatzten Granatäpfeln. Dazu trägt er die typischen burgundischen Stiefelettchen mit übergroßen Spitzen, man lebte auf großem Fuß. In der linken Hand hält er pro forma einen schmalen Schild, der nur ein Bein beschützen kann. Hinter dieser Gruppe sieht man die Metallhelme und Lanzen der Soldaten.

Den Übergang zur linken Gruppe stellen zwei kleine, am Fuße des Kreuzes kniende Franziskaner dar. Der Boden besteht nur aus trockenen Schollen, grün wird es erst im Mittelgrund. Neben den Mönchen liegt der Schädel Adams, daneben eine Schere: Die Verbindung zur alten Welt ist zerschnitten, jetzt hebt eine neue Zeit an. Das zeigt auch das zerbröckelnde zyklopische Gemäuer, welches beinahe dem Grabmal Absaloms ähnelt. Im Hintergrund die ummauerte Stadt ist sicher nicht das himmlische Jerusalem, sondern zeigt, wie damals im niederländischen Bereich üblich, eine reiche befestigte Stadt.

Kulturbüro Dr. Lore Gewehr - Berlin - Kirchenführungen, Vorträge & Präsentationen, Gruppen-Reisebegleitung - Marienkirche Stendal
(Stendal Marienkirche, unbekannter Maler)

Kommen wir jetzt zu der linken Gruppe: Von den Marien fällt sofort die leicht exaltierte Maria Magdalena auf. Wich­tiger für uns ist aber die im Vordergrund zusammensackende Maria, die mit Mühe von Johannes gehalten wird, fast blut­leere Hände hängen kraftlos herab. Diese Art der Darstellung kann als Erfin­dung von Rogier van der Weyden gelten und findet sich in Abwandlungen auf vielen Altären und Bildern, u.a. in der Marienkirche in Stendal. Und damit schlage ich den Bogen zu der möglichen Herkunft des Bildes, bitte überzeugen Sie sich selbst in der Annenkirche.

 

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